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Der Welt auf den Kopf geschaut!

Michael Jaesrich

Das Stück, welches erst 1895, knapp 60 Jahre nach dem frühen Tod des genialen Autors, uraufgeführt wurde, hält durchaus große Herausforderungen für die Spielenden parat. Da ist zum einen die messerscharfe Sprache Büchners, die es zu erfassen und zu durchdringen“ galt, wie Mathias Eicks erläutert. Zum anderen muss der Kern des scheinbar lustigen Stückes herausgearbeitet werden. Wird das Stück gemeinhin als politische Satire auf Monarchie, Kleinstaaterei und die Oberflächlichkeit des Adels inszeniert, haben sich die jungen Mimen des GEG auf die unter der Oberfläche verborgenen Fragen des Stückes konzentriert: Was ist das Wesen des Menschen? Wie definiert sich seine Rolle in der Welt?

Mit diesem hehren Anspruch wurde ein fröhliches aber eben doch auch tiefsinniges Spiel gestaltet: Schließlich handle es sich um eine Komödie mit Widerhaken“, wie Eicks ergänzt. Das Ergebnis dieser mehrjährigen dramatischen „Fragestunde“ wurde der theateraffinen Öffentlichkeit nun erstmals am 18. Juli im Lichthof des Gymnasiums präsentiert.

 

Eröffnet wurde der Abend von Valerio, dem lebenszugewandten Narren und Diener des Prinzen Leonce. Unglaublich ausdrucksstark verkörpert Sophie Digel diese interessante Figur, die über den gesamten Abend hinweg eine Art Gegenstück und Antriebsfeder des Prinzen bleiben sollte. Prinz Leonce (Robin Stolz) hingegen erschütterte das Publikum mit seiner grenzenlosen Weltverdrossenheit. Robin Stolz gelang es mit wunderbarer Weinerlichkeit das Publikum stets schwanken zu lassen zwischen Mitleid und Verachtung für diesen zartbesaiteten Aristokraten, dessen Probleme und Fragen herrlich abseitig anmuten: Ob man wohl 365 Mal auf einen Stein spucken oder gar den eigenen Kopf betrachten könne? Diese Frage verband Leonce mit einem gekonnten Salto, der das Publikum das erste Mal an diesem Abend zu Begeisterungsstürmen trieb (es sollten nicht der letzten bleiben). Valerio hingegen vermag überall nur Vergnügen und Genuss erkennen: „Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen.“ Der Rahmen für die weiteren Abend war gesetzt.

Danach betrat erstmals Leonces Vater Peter (Amelie Scheu), König von Popo, die Bühne und brachte die eigentliche Handlung in Gang.

Amelie Scheu verkörperte den von Staatsgeschäften und Alltag überforderten Regenten mit großer Bühnenpräsenz:,„[…] an was wollte ich mich erinnern? […] Ja das ist’s, das ist’s. - Ich wollte mich an mein Volk erinnern!“ Einen Plan hat König Peter dann aber immerhin für den eigenen Sohn: Aus politischen Gründen soll diese Lena, die Prinzessin von Pipi heiraten.

In der Folge entspinnt sich ein wild-komödiantisches Verwechslungsspiel, denn Leonce, der seine flüchtige Beziehung mit der Mätresse Rosetta (Malin Vincent) gerade nonchalant beendet hatte, will den Plänen des Vaters keineswegs folgen. Wobei an dieser Stelle das fulminante Spiel der aussortierten Rosetta hervorgehoben werden muss, die ihre Gefühle musikalisch eindrucksvoll mit dem von ihr am Klavier vorgetragenen Song „Say something“ ausdrückt. Letztlich entscheidet sich der melancholische Prinz, nach „urdeutscher“ Tradition, Zuflucht in Italien zu nehmen und bricht gemeinsam mit Valerio, musikalisch umrahmt von einer mitreißenden Tarantella, Hals über Kopf auf.

Auch wenn die politische Interpretation des Büchnerstückes nicht im Fokus der Bühnengruppe steht, so muss an dieser Stelle doch auch dieser Aspekt Beachtung finden und besonders das Wirken der phantastisch agierenden Nebenrollen erwähnt werden. Die Dienerschaft (Asiye Cayan, Fenna Haas) und der Hofstaat (Anastasia Wiedmann, Lieza Thoms, Juliana Kolesch) verharren im Angesicht der überdrehten und lebensfernen Adligen durchweg in einer ebenso überzeugenden, wie viel-„sagenden“, Stoik. Deutlich tritt der Abscheu gegenüber der lebensunfähigen oberen Klassen zu Tage.

In der Zwischenzeit hat sich auch Prinzessin Lena (Myryam Dinu) samt Gouvernante (Klara Schütze) der drohenden Vermählung durch Flucht entzogen. Die Aussicht auf eine arrangierte, lieblose Ehe reißen die Prinzessin zu melodramatischen Gefühlsausbrüchen hin: „Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten?“

Es kommt, wie es kommen musste: Während am Hofe schon die Hochzeitsvorbereitungen laufen, begegnen sich die beiden Königskinder zufällig, ohne sich zu erkennen und verlieben sich spontan ineinander. König Peter verzweifelt indessen ausdrucksstark: „Ich hatte doch beschlossen, dass ich mich heute freue!“

Letztlich erreichen die Liebenden doch den Hochzeitssaal - eigentlich um ihre vermeintliche Mesalliance zu verkünden – und stellen nun fest, dass der Zufall ihnen einen „schönen“ Streich gespielt hat. Diesen scheinbar „kitschigen Moment“ hat Mathias Eicks allerdings mit feinem dramaturgischen Kniff aufgebrochen: Sowohl Prinzessin Lena, als auch Prinz Leonce erschienen als roboterhaft verfremdete Wesen auf der Bühne und wurden von Valerio im passenden „Digitalduktus“ eingeführt. Da war es wieder, das Hauptmotiv des Abends: Welche Rolle,hat der Mensch? Ist er Akteur oder Spielball eines unergründlichen Schicksals? Ist die Liebe gar nur ein abgefeimter Mechanismus? Hier war die Truppe nah dran an den grundlegenden Fragen moderner Philosophie.

Danach erschallte der Schlusssatz aus der Vorlage. Leonce, inzwischen zum König gekrönt, appelliert an das Publikum: „Gehen Sie jetzt nach Hause […] denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemüthlichkeit den Spaß noch einmal von vorn an.“ Die Frage, ob dieser Satz dem Schluss des „Lustspiels“ nicht eher einen drohenden Charakter verleiht, wurde häufig gestellt und diskutiert. Mathias Eicks wagte es nun, dieses „unendliche Karussell menschlicher Eintönigkeit“ aufzubrechen, indem er dem werten Publikum einen kleinen Ausblick in die nahe Zukunft gewährte: Leonce und Lena, Valerio und die Gouvernante, die immer noch in ihren Rollen verhaftet bleiben, wurden konterkariert von den fiktiven Kindern des royalen Ehepaares, umwerfend verkörpert von Jakob und Charlotte Cremer. Die neue Generation symbolisiert die Möglichkeit aus dem Karussell ewiger Wiederholung auszusteigen: ein versöhnlicher Schluss, der mit lang anhaltendem Beifall quittiert wurde!

 

Michael Jaesrich